Kategorie: Allgemein
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Sofortprogramm für sinkende Mieten
5 Punkte, die nach der Bundestagswahl passieren müssen:
Die Mieten müssen runter. Dass es so nicht weitergehen kann, beteuern zwar fast alle Parteien. An Konzepten, die Mieten tatsächlich sinken lassen, fehlt es aber. Viele halbherzige Versuche sind gescheitert. Allein in der Regierungszeit von Angela Merkel sind die Neuvertragsmieten in Berlin um 130 % gestiegen, in Hamburg um 97 % – zugleich geraten auch kleinere Städte zunehmend unter Druck. Menschen werden aus ihren Vierteln verdrängt, viele können schlicht nicht mehr frei entscheiden, wo sie leben wollen. Dabei sind explodierende Mieten längst keine zwangsläufige Entwicklung in Ballungsräumen, sondern schlicht das Resultat einer Politik, die sich nicht kümmert: Die Sicherung von Grundbedürfnissen wie Wohnraum wurde in den letzten Jahrzehnten zunehmend dem Markt überlassen.
Auch die nächste Bundesregierung wird deshalb an der Wohnungsfrage scheitern, wenn sie nicht bereit ist für einen grundlegenden Richtungswechsel: Ob man sich ein Dach über dem Kopf leisten kann oder nicht, darf nicht mehr von den Gewinninteressen von Wohnungskonzernen abhängen
Fünf zentrale Punkte, die ab Herbst umgehend auf den Weg gebracht werden müssen:
- Sofort die Notbremse ziehen: Bundesweiter Mietenstopp.
Als erste Sofortmaßnahme werden alle Mieten für sechs Jahre eingefroren, um Mieter*innen damit eine Verschnaufpause zu geben und den Markt nicht weiter eskalieren zu lassen. Das gilt auch für Staffel- und Indexmieten. Einzige Ausnahme sind geringe Steigerungen bei besonders niedrigen Mieten, um Härtefälle beispielweise bei Genossenschaften zu vermeiden. Bei diesen fairen Mieten, die unter 80 % derortsüblichen Vergleichsmiete liegen, sollen Erhöhungen von bis zu 2 % jährlich möglich bleiben. - Entfesselte Märkte bändigen: Rechtssichere Mietendeckel einführen.
Um Mieten zu senken und die Preisentwicklung angepasst an die jeweilige Situation vor Ort gestalten zu können, braucht es ein Bundesgesetz, das regionale Mietobergrenzen im Bestand ermöglicht. So können Länder rechtssichere Mietendeckel nach Bedarf einführen, um Druck aus dem Mietmarkt zu nehmen und überteuerte Wohnungen wieder bezahlbar zu machen. - Wohnraum zurück in die öffentliche Hand: Wohnkonzerne vergesellschaften.
So lange Wohnungsbestände der Gewinnmaximierung von Großkonzernen dienen, so lange wird unser Grundrecht auf Wohnen den Profitlogiken des Marktes unterworfen – menschliche Bedürfnisse haben hier nur dann einen Platz, wenn sie entsprechend zahlungskräftig sind. Deshalb ist die Vergesellschaftung im Grundgesetz explizit vorgesehen und die rechtlichen Hürden dafür sind bewusst niedrig gehalten. Was fehlt, ist eine Regierung, die handelt: Um die eigenen vier Wände für alle garantieren zu können, muss Wohnraum dringend zurück in die öffentliche Hand überführt werden. Sollte das Volksbegehren „DW & Co. Enteignen“ in Berlin erfolgreich sein, muss es dort schnell umgesetzt werden – in jedem Fall weist es den Weg für andere Länder und den Bund. - Sozialen Wohnraum bauen und sichern: Ausverkauf stoppen.
In den letzten Jahren haben wir jeden Tag über 100 Sozialwohnungen verloren. Das stumpfe „bauen, bauen, bauen“ ändert daran wenig, selbst bei einer hohen Sozialwohnungsquote. Denn spätestens nach 30 Jahren läuft die Sozialbindung des geförderten Wohnungsbaus aus – danach geht Wohnraum, der mit öffentlichen Geldern finanziert wurde, in private Hände. Das können wir uns nicht länger leisten. Statt also weiter Konzerne zu subventionieren, müssen Bund, Länder und Kommunen den Neubau selbst in die Hand nehmen und sozialen Wohnungsbau nicht nur fördern, sondern eigenhändig bauen. - Ökowende beschleunigen: Mieter*innen entlasten.
Der Gebäudesektor ist momentan ein Flaschenhals für den Klimaschutz insgesamt: In den nächsten Monaten und Jahren müssen sehr schnell Wärmesysteme auf Erneuerbare umgestellt, Häuser energetisch saniert und Dächer mit Solaranlagen ausgerüstet werden. Die Kosten dafür müssen endlich die übernehmen, die auch von der damit einhergehenden Wertsteigerung profitieren: Ohne ambitionierter Sanierungspflicht für Vermieter:innen keine
Energiewende. Auch der anfallende CO2-Preis muss von Vermieter:innen getragen werden, damit er funktioniert. Wer soziale Vermietungskriterien erfüllt, kann dafür öffentliche Förderungen erhalten. Im Gegenzug muss die Modernisierungsumlage reformiert werden: Es kann nicht sein, dass Investitionen, die sich bereits nach wenigen Jahren rechnen, als Legitimation für unbefristete Mieterhöhungen herhalten müssen. Die Zeit der kleinen Schritte ist vorbei: Die Mieten müssen runter, und zwar spürbar und sofort. Der Handlungsspielraum dafür ist da, er muss nur endlich genutzt werden: Unser aller Recht auf Wohnraum zählt mehr als die Profitinteressen von Deutsche Wohnen, Vonovia und Co.
- Sofort die Notbremse ziehen: Bundesweiter Mietenstopp.
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Her mit den Arbeitsplätzen der Zukunft!
Die Gesellschaft klimaneutral umbauen: Was aus ökologischer Perspektive zwingend notwendig ist, löst auf der Seite der Beschäftigten in betroffenen Industrien teils heftige Befürchtungen aus. Und die sind durchaus berechtigt: Zu oft mussten Arbeiter*innen in der Vergangenheit feststellen, dass sie beim notwendigen Wandel einfach hinten runterfielen. Und auch in den aktuellen Debatten um das Ende von Verbrennungsmotoren, Braunkohleverstromung oder Kurzstreckenflüge fehlt es bislang an Konzepten, die sicherstellen, dass der Wandel nicht auf dem Rücken der Lohnabhängigen ausgetragen wird. Dieses Papier ist ein Versuch, diese Lücke zu schließen und damit den Weg zu ebnen für einen Aufbruch, der das notwendige Tempo im Kampf gegen die Klimakrise mit den notwendigen Sicherheiten für die Beschäftigten zusammenbringt.
Es könnte so viel besser sein
Die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes der letzten 20 Jahre ermöglichte ein Wirtschaftswachstum, dessen Preis wir alle zahlen: 13 Millionen Menschen in Deutschland leben in Armut, darunter 2,8 Millionen Kinder. Jede*r Fünfte arbeitet im Niedriglohnsektor und befindet sich damit knapp über der Armutsgrenze oder sogar darunter. Diese Unsicherheiten wirken sich auf die gesamte Gesellschaft aus: Menschen werden an den Rand unserer Gesellschaft gedrängt. Vermögen sind so ungleich verteilt, wie seit 1913 nicht mehr und mit geringerem Einkommen und schlechter Absicherung entsteht Unsicherheit vor jeder weiteren Veränderung der Arbeitswelt. Andererseits wissen wir heute sehr genau, wie katastrophal ein „Weiter so“ für den Planeten wäre. Dass es für Klimaneutralität einen schnellen und tiefgreifenden Umbau der Industrie braucht, steht außer Frage.
Wir haben alle Möglichkeiten in der Hand: Die Technologien sind da, die Arbeitskraft ist da, der entsprechende Handlungsdruck ist da –und der Zinssatz war noch nie so gut für Investitionen wie heute. Was fehlt, ist ein Plan, wie wir diesen Wandel so organisieren, dass niemand zurückgelassen wird.
Schaffen wir Arbeitsplätze, die Zukunft haben
Unsere Gesellschaft zukunftsfähig zu machen, schafft neue Jobs und neuen Wohlstand. Dafür braucht es einen klaren Fahrplan:
- Maßgabe dafür muss sein, dass für die Beschäftigten der fossilen Industrien neue Jobs mit vergleichbaren Tarifbedingungen geschaffen werden: Eine solche Status-Garantie gibt die notwendige Sicherheit, um optimistisch auf den Wandel blicken zu können. Die Nachfrage dafür ist ohnehin da: Eine umfassende, tiefgreifende Verkehrswende wird in der Branche einen Job-Boom auslösen. Züge und Trassen müssen gebaut und gewartet werden, vernetzte Mobilität muss organisiert und Batterien hergestellt, geladen und recycelt werden. Um Städte autofrei zu machen, muss das gesamte Verkehrssystem nach und nach umgeplant, freiwerdende Flächen umgewidmet und Fahrzeugführer*innen ausgebildet werden. Damit all diese neuen Jobs garantiert langfristig und gut bezahlt sind, muss der Staat entsprechende Rahmenbedingungen schaffen – oder sie selbst bereitstellen. Die öffentliche Versorgung mit Grundbedürfnissen wie Mobilität ist ein öffentliches Interesse, also muss es auch öffentlich sichergestellt werden: Durch öffentliche Aufträge oder unbefristete Stellen bei bundeseigenen Agenturen und Behörden können Hochgeschwindigkeitstrassen, neue Bahnhöfe und Radschnellwege überall dort entstehen, wo sie gebraucht werden.
- Damit einhergehend muss eine deutliche Arbeitszeitverkürzungbei vollem Lohnausgleich eingeführt werden, die dem technischen Fortschritt gerecht wird: Heute erledigen KI, Maschinen und Computer einen großen Teil unserer Arbeit. Wir müssen immer weniger arbeiten, um dennoch immer bessere Produkte in immer kürzerer Zeit zu produzieren. Die Arbeitszeit muss in gleichem Maße sinken, um bessere Arbeitsbedingungen für alle Beschäftigten zu ermöglichen.
- Die dafür erforderlichen Um- und Weiterbildungsmaßnahmen sind ein zentrales Element für die Frage, ob der Wandel gelingt. Die Anforderungen an Beschäftigte ändern sich immer schneller. Um Schritt halten zu können, braucht es ein ambitioniertes Bundesweiterbildungsgesetz, das den Anspruch auf Weiterbildung garantiert und die betriebliche und tarifliche Mitbestimmung sichert. Aufbauend auf einer möglichst breiten Grundausbildung müssen Schulungsprogramme und systematische Fortbildungen speziell für Arbeiter*innen der Automobilindustrie geschaffen werden, die ihr Angebot stark an der jeweiligen Nachfrage vor Ort orientieren. Auch der Wechsel zu Hochschulen oder in völlig fachfremde Branchen muss erleichtert werden.
- Ein besonderer Fokus muss dabei auf die Regionen gelegt werden, in denen momentan besonders viele Menschen in den alten Industrien beschäftigt sind. Wir müssen gezielte Offensiven für klimagerechten Umbau starten: In Wolfsburg, Ingolstadt oder Stuttgart sind Arbeitskraft und Infrastruktur bereits da – dieses Potential gilt es zu nutzen, indem neue Produktionsstätten vorrangig dort angesiedelt werden, wo bisher Diesel und Benziner vom Band rollten. So können wir nachhaltige Clusterpolitik gestalten und zusammen mit Kommunen und Ländern die sozial-ökologische Transformation und neue Visionen in alte Industriestandorte bringen. Dafür braucht es langfristige Anreize und Förderprogramme: Schon einmal stand beispielsweise die Lausitz kurz vor einem Wandel vom Kohlerevier zum Hotspot der Solarindustrie – doch die Bundesregierung ließ die aufkommende Branche sterben, bevor sie richtig Fuß gefasst hatte. In der Wind-und Solarindustrie wurde in den letzten Jahren zehntausende zukunftsfähige Arbeitsplätze vernichtet. Diese Fehler dürfen sich nicht wiederholen. Wie es anders geht, zeigt die Bahn gerade in Cottbus: Dort schafft die DB 1.200 neue Arbeitsplätze für ein Instandhaltungswerk und kooperiert dafür eng mit der LEAG, um den Beschäftigten nach dem Kohleausstieg eine Perspektive zu bieten. Damit der Wandel gelingt, braucht es Transformationsräte, die die Mitgestaltung von Zivilgesellschaft und Sozialpartnern sicherstellen.
- Und natürlich braucht es Sicherheiten: an erster Stelle muss stehen, Menschen aus der Armut zu holen – ob mit Job oder ohne. Millionen Menschen sind auf Arbeitssuche und unfreiwillig arbeitslos. Für sie braucht es eine Jobgarantie, die gut bezahlte Jobs in der Kommune bereitstellt. Sie garantiert Vollbeschäftigung und wirkt zugleich als automatischer Stabilisator für Zeiten wirtschaftlichen Abschwungs: Je mehr Arbeitsplätze in Unternehmen verloren gehen, desto kräftiger investiert die öffentliche Hand in Jobs vor Ort. So hebt der Staat automatisch Arbeitsbedingungen und Löhne an.
- Nötig ist außerdem eine umlagefinanzierte Ausbildungsgarantie, die sicherstellt, dass jeder junge Mensch eine Ausbildung findet, die zu ihm passt und ihm die Chance gibt, einen Beruf zu lernen, den es in der Zukunft auch noch gibt. Um gewappnet zu sein für sich immer schneller verändernde Anforderungen, muss die Ausbildung breit und umfassend sein. Das Erfolgsmodell Duale Ausbildung muss gestärkt werden.
- Ergänzend muss eine sanktionsfreie Grundsicherung dafür sorgen, dass die Existenz jedes Menschen gesichert ist. Das bisherige Arbeitslosengeld ist unerträglich niedrig und zwingt so Menschen in unwürdige, ausbeuterische Jobs – denn selbst die sind oft besser als Hartz 4. Eine Grundsicherung von mindestens 1.100 € verschafft die Chance auf ein Leben in Würde.
- Ein Mindestlohn von langfristig 15€ ohne Ausnahmen ist die notwendige Untergrenze, um Altersarmut und Dumpinglöhne zu verhindern und den größten Niedriglohnsektor Europas ein für alle Mal auszutrocknen. Damit Einkommen über den Mindestlohn hinaussteigen können, muss die Bindung an Tariflöhne gestärkt werden.
- Unstrittig ist, dass die Gesellschaft von all diesen Maßnahmen zwar immens profitiert, dafür kurzfristig, aber enorme Investitionssummen nötig werden. Doch auch hier sind die Voraussetzungen günstig. Ein Ende der Schuldenbremse würde besonders jetzt in Zeiten der Krise eine Investitionsoffensive ermöglichen. Investieren wir jetzt in unsere öffentliche Infrastruktur: Schienen, Schulen, Kommunen, Netzausbau, Digitalisierung und vieles mehr. So schaffen wir neue Jobs und kurbeln die Wirtschaft an. Die Coronakrise hat gezeigt, dass der Staat kein Finanzierungsproblem hat. Derzeit kann das Staatskonto mitdem Verkauf von Staatsanleihen zu negativen Zinsen sogar gefüllt werden.
- Trotzdem sollte eine zweite Finanzierungsquelle schon allein aus Gerechtigkeitsgründen nicht außer Acht gelassen werden: Extreme Vermögen haben sich durch die Pandemie noch einmal zusätzlich vermehrt. Einer Vermögensabgabe zur Finanzierung des wirtschaftlichen Umbaus und eine Erbschaftssteuer ab einer Million Freibetrag wären wichtige Beiträge, um extreme Vermögensanhäufung zumindest im Zaum zu halten.
Vor uns liegen so viele Chancen: Mit diesen Maßnahmen können ehemalige Autostädte in den kommenden Jahren zu Motoren von Zukunftstechnologien werden. Das sprunghaft angehobene Lohnniveau kann den Niedriglohnsektor austrocknen und ermöglicht mehr Menschen die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Die im Rahmen der Jobgarantie geschaffenen Arbeitsplätze in den Kommunen machen das Leben vor Ort lebenswerter und schaffen mit Renaturierungsmaßnahmen auch Stück für Stück artenreiche und hochwassersichere Flussläufe, klimaresistente Mischwälder, wiedervernässte Moore als CO2-Senken und Naherholungsgebiete für alle. Neue finanzielle Sicherheiten schaffen Zusammenhalt und ermöglichen Menschen einen positiven Blick auf die Zukunft.
Zukunft passiert nicht einfach so
Die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit könnte größer kaum sein: Zukunftsbranchen wie die Wind-, die Bahn-und die Solarindustrie entlassen tausende Angestellte, weil der Ausbau von der GroKo politisch ausgebremst wird. Im kompletten Jahr 2020 wurden exakt 0 Kilometer bundeseigene Bahnschienen fertiggestellt. Und der Zustand unserer Luft, Böden und Gewässer ist derart katastrophal, dass er seit Jahren gegen EU-Recht verstößt und nun immer öfter Gerichte eingreifen müssen, wo Regierungen versagen.
Es bleibt also viel zu tun, doch die Chance für einen echten Aufbruch ist da: Immer mehr Menschen werden aktiv, soziale Bewegungen gewinnen an Einfluss und einst getrennte Kämpfe von Klimaaktivist*innen und Gewerkschafter*innen wachsen mehr und mehr zusammen. Noch werden soziale und ökologische Fragen meist gegeneinander ausgespielt, doch das muss nicht so sein: Bringen wir es zusammen!
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Polizei neu aufstellen
NSU 2.0 in Hessen, rassistische Abstammungsrecherche in Baden-Württemberg, Polizist*innen in bewaffneten rechten Netzwerken, alltägliches Racial Profiling und jährlich tausende Fälle von brutaler Polizeigewalt, für die sich niemand verantworten muss: Die Polizei in Deutschland gibt das Bild einer dringend reformbedürftigen Behörde ab – und gleichzeitig werden alle Maßnahmen, ja schon die bloße Erhebung von Daten, erbittert bekämpft. Wer es wagt, die Summe all der Missstände als strukturelles Problem anzuerkennen, ist massiven Angriffen ausgesetzt. So ist keine aufgeklärte Debatte möglich über eine Behörde, die mit Sonderrechten und dem staatlichen Gewaltmonopol ausgestattet ist – und deren Handeln deshalb umso stärker kontrolliert und immer wieder aufs Neue gesellschaftlich ausgehandelt werden muss. Unkontrollierte Sicherheitsbehörden sind eine Gefahr für die Demokratie. Die kritische Debatte über die Arbeit der Polizei ist deshalb kein Angriff auf die Polizei, sondern eine demokratische Selbstverständlichkeit.
Mit diesem Papier wollen wir den Fokus auf konkrete Maßnahmen legen, Raum für dringend notwendige Veränderungen schaffen und den Weg in eine freiere Gesellschaft aufzeigen. Über allem muss das Ziel stehen, staatliche Gewalt als Mittel zur Konfliktlösung nach und nach zu verdrängen und durch Prävention und Kooperation zu ersetzen.
1. Prävention stärken:
Zivile Träger ausbauen, Polizei entlastenPolizeieinsätze sind kein Selbstzweck. In vielen Bereichen wird die Polizei de facto für Aufgaben gerufen, denen speziell geschulte Berufsgruppen besser und effektiver nachkommen könnten – sei es der Umgang mit Opfern häuslicher oder sexualisierter Gewalt, mit Fußballfans oder Obdachlosen, Geflüchteten oder Suchtkranken. Wenn Menschen aufgrund akuter Not, vermeintlicher Ausweglosigkeit oder einer psychischen Erkrankung sich und anderen Schaden zufügen, dann hilft es ihnen und der Gesellschaft nichts, ihnen dafür mit Gewalt zu begegnen und durch einen Polizeieinsatz die Situation möglicherweise noch mehr zu eskalieren. Zuallererst braucht es frühzeitige Hilfen und Präventionsmaßnahmen, damit gar nicht erst soweit kommen kann: Wer genug zum Leben hat, fängt seltener an, Geldbeutel zu stehlen; wer bei Bedarf psychologische Begleitung bekommt, wird selten zur Gefahr und wer Asylstatus genießt, muss nicht brutal abgeschoben werden. Das Strafrecht allein kann nur Symptome bekämpfen, die gesellschaftlichen Probleme dahinter jedoch nicht lösen.
Und auch im akuten Notfall sind Polizist*innen meist nicht mit den Kompetenzen ausgestattet, die es eigentlich bräuchte: Alleine in den letzten Wochen wurden mehrmals Menschen in psychischen Ausnahmesituation von der Polizei erschossen, nachdem diese augenscheinlich außer Stande war, die Situation zu deeskalieren. So etwas darf nicht passieren! Sanitäter*innen, Streetworker*innen und psychologische Krisenhilfe können dabei helfen, potentiell bedrohliche Situationen konfliktarm zu lösen. Durch massiven Ausbau von finanziellen und personellen Ressourcen dieser zivilen Träger schützen wir nicht nur die Betroffenen, sondern entlasten auch die Polizei. Wenn nur die Polizei genügend personelle Kapazitäten hat und nur unter der 110 rund um die Uhr jemand verfügbar ist, dann wird auch immer nur die Polizei gerufen. Das belastet Polizist*innen mit Situationen und Einsätzen, für die sie nicht ausgebildet sind – und nimmt Betroffenen die Möglichkeit, von geschultem Fachpersonal betreut zu werden, bevor die Situation überhaupt eskaliert. Dafür müssen wir Strukturen stärken bei denen, die wirklich in Krisenintervention geschult sind – und gleichzeitig die Polizei besser darin schulen, zu deeskalieren und mit Menschen in Ausnahmesituationen umzugehen. Prävention geht vor Intervention.
2. Polizei neu ausrichten:
Deeskalation stärken, Rassismus bekämpfenDass das reale Handeln der Polizei oft wenig mit rechtsstaatlichen Idealen gemein hat, mussten beispielsweise Linke oder People of Color über viele Jahrzehnte schmerzhaft am eigenen Körper erfahren. Doch mit jedem neuen Skandal wächst das öffentliche Bewusstsein über die grundlegenden Missstände, immer breitere Teile der Gesellschaft machen klar: Eine grundlegende Neuausrichtung von Polizeiarbeit ist unausweichlich.
Um menschenfeindlichen Ideologien in der Polizei vorzubeugen, müssen diese schon bei Neueinstellungen sorgfältig überprüft werden: Wer offen ist für demokratiegefährdende Positionen, darf seine Uniform gar nicht erst bekommen.
Zudem müssen Beamten- und Dienstrecht angepasst werden: Wenn Probleme in einzelnen Einheiten oder Dienststellen besonders gehäuft auftreten, müssen diese leichter aufgelöst werden können. Bei den betroffenen Beamt*innen muss erneut systematisch geprüft werden, ob sie menschenfeindliche Positionen vertreten, bevor sie an anderer Stelle wieder im Polizeidienst eingesetzt werden können. Dies gilt insbesondere für sogenannte geschlossene Einheiten wie BFE, USK, BFE+ oder SEK. In diesen spezialisierten Verbänden manifestieren sich gefährliche Tendenzen oft in besonderem Maße und führen zusammen mit einem übersteigerten Korpsgeist zu einem Weltbild von “wir gegen den Rest der Welt”, der mit rechtsstaatlichen Prinzipien nicht zu vereinen ist. Die personellen Zusammensetzungen geschlossener Einheiten sollen spätestens nach drei Jahren gewechselt werden.Antirassismus
Polizeiliches Handeln muss stets diskriminierungsfrei erfolgen. Racial Profiling muss unverzüglich und konsequent beendet werden. Deshalb müssen die gesetzlichen Bestimmungen, mit denen Racial Profiling gerechtfertigt wird, abgeschafft werden. Dafür bedarf es einer Streichung des Ausdrucks „grenzpolizeilicher Erfahrung“ aus § 22 (1) des Bundespolizeigesetzes. Damit Betroffene von Racial Profiling übermäßige Kontrollen nachweisen können, soll ein Ticket-System eingeführt werden: Jede Person, die von der Polizei kontrolliert wird, erhält nach der Kontrolle ein Ticket, bei dem Ort, Zeit, Datum, Grund und Umfang der Kontrolle festgehalten werden. Außerdem braucht es im Bund und allen Ländern ein wirkungsvolles Antidiskriminierungsgesetz nach Berliner Vorbild. Zudem sollen mehr Antirassismus-Beauftragte nach dem Vorbild der Gleichstellungsbeauftragten eingeführt werden. Der Staat muss garantieren, dass sein Handeln diskriminierungsfrei wirkt.
Deeskalation
Militärähnliche Bewaffnung, gepanzerte Fahrzeuge und noch mehr Polizeipräsenz auf der Straße stärken weder subjektive Sicherheitsgefühle, noch die objektive Sicherheitslage. Sie sind kein geeignetes Mittel, um Sicherheitsbedürfnisse in der Bevölkerung zu befriedigen.
Die Bewaffnung von Einsatzkräften muss sich streng an wissenschaftlichen Erkenntnissen orientieren und zudem auf den jeweiligen Einsatzzweck angepasst sein. Das bedeutet, dass nicht jede Polizeistreife standardmäßig mit Schusswaffen ausgerüstet sein muss. Dafür ist privater Waffenbesitz mit Ausnahmen von Jäger*innen und Förster*innen zu verbieten.
Pfefferspray enthält gefährliche Reizstoffe. Es ist bei vielen Einsätzen auf beiden Seiten die häufigste Ursache für Verletzungen und trägt nicht zur Deeskalation bei. Erst vor wenigen Wochen erschoss die Polizei in Bremen einen psychisch labilen Mann, nachdem die Situation durch den Einsatz von Pfefferspray völlig außer Kontrolle geraten war. Pfefferspray wird leichtfertig eingesetzt, ein Nutzen dieses Einsatzes ist aber nicht erkennbar. Die standardmäßige Bewaffnung der Polizei mit Pfefferspray ist deshalb zu beenden.Ziel von Polizeiarbeit muss sein, den Einsatz von Gewalt und Waffen gar nicht erst nötig werden zu lassen. Deeskalation muss in den Mittelpunkt der polizeilichen Arbeit gestellt werden.
Für Versammlungen bedeutet das: Pferde und Hunde sind auf Demonstrationen grundsätzlich fehl am Platz. Das Vermummungsverbot muss abgeschafft werden. Ziel jeder Einsatzstrategie muss sein, in demokratischen Protest so wenig wie möglich einzugreifen und Polizei so zurückhaltend wie möglich einzusetzen. Statt staatlicher Gewalt als Mittel der Konfliktlösung müssen auch in diesem Bereich konsequent Kommunikation, Kooperation und Deeskalation die obersten Prämissen werden.Aus- und Weiterbildung
Die Grundsteine dafür müssen bereits in einer völlig neu ausgerichteten Ausbildung gelegt werden. Kommunikationskompetenzen, ein deeskalativer Umgang mit Konfliktsituationen und diskriminierungsfreie Polizeiarbeit müssen deutlich mehr Raum erhalten. Dass angehende Polizist*innen von Tag eins ihrer Ausbildung in Polizeikasernen abgeschirmt unter ihresgleichen sind, nützt niemandem. Wie in anderen Ländern selbstverständlich, muss das Studium so weit wie möglich an regulären Universitäten stattfinden.
Wie jedes andere Berufsfeld auch, muss Polizeiarbeit nach aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen ausgerichtet werden. Das geht nur mit beständiger Fort- und Weiterbildung, beispielsweise zu zurückhaltenden Einsatzstrategien, dem Umgang mit Menschen in psychischen Ausnahmesituationen oder Antirassismustrainings.
Eine gute Ausbildung und gute Fortbildungsmaßnahmen sind die beste Ausrüstung.Polizei öffnen
Polizei ist aktuell vor allem weiß und männlich. Es muss sichergestellt werden, dass alle Geschlechter und Menschen mit Migrationsgeschichte angemessen bei der Polizei vertreten sind – auch in Führungspositionen!
Um Wirtschafts- und Umweltkriminalität, sexualisierte Gewalt oder Cyberkriminalität bekämpfen zu können, braucht es nicht nur Polizist*innen: Multiprofessionelle Teams mit externen Expert*innen sind dafür ein Schlüssel. Um ihren Aufgaben gerecht werden zu können, muss die Polizei sich öffnen. Ob Soziolog*innen, Polizeiwissenschaftler*innen oder Informatiker*innen: Wie jede andere Organisation braucht auch die Polizei mehr als eine Perspektive und ist auf die Erfahrungen von unterschiedlichen Berufsgruppen angewiesen. Auch sie müssen Zugang zu Führungspositionen haben: Zentrale Positionen in der Polizei dürfen nicht nur Polizist*innen vorbehalten sein.
3. Staatsgewalt braucht Kontrolle:
Gewaltenteilung stärken, Rechtsstaat verteidigenStaatliches Handeln bedarf Kontrolle. Der Einsatz staatlich legitimierter Gewalt muss umso strenger kontrolliert werden, doch das Gegenteil ist die Realität; eine Aufklärungs- und Verurteilungsquote bei Polizeigewalt von nicht einmal 1% spricht eine deutliche Sprache: Gewaltexzesse in Uniform werden de facto nicht geahndet. Diese gravierenden Probleme sind nicht erst seit der verweigerten juristischen Aufarbeitung der Polizeigewalt im Rahmen des G20-Gipfels bekannt. Der Rechtsstaat muss garantieren, dass unzulässige Übergriffe aufgeklärt und geahndet werden – und zwar unabhängig davon, wer Betroffene*r und wer Verursacher*in ist.
Polizeigewalt konsequent verfolgen
Täter in Uniform haben in Deutschland kaum Konsequenzen zu befürchten: Trotz mehreren tausend Übergriffen im Jahr kommt es nur in Ausnahmefällen überhaupt zum Verfahren – und noch seltener zu einer Verurteilung. Größtes Problem bei nicht geahndeter Polizeigewalt sind die fehlenden unabhängigen Ermittlungsstellen und die fehlende Identifizierbarkeit von Beamt*innen. Es braucht daher umgehend eine anonymisierte Kennzeichnungspflicht für alle Einheiten, um Gesetzesverstöße überhaupt ahnden zu können. Außerdem sind unverzüglich unabhängige Ermittlungsstellen mit Schwerpunkt-Staatsanwaltschaften einzuführen, die bei Fehlverhalten von Polizeibeamt*innen tätig werden. Diese Anlaufstellen sind mit weitreichenden Kompetenzen und Ressourcen auszustatten. Um zudem mehr Transparenz der juristischen Aufarbeitung von Polizeigewalt zu ermöglichen, sollen alle Einsatzprotokolle und Polizeivideos bei einer unabhängigen Treuhandstelle aufbewahrt werden. Somit sollen Polizei, Justiz, unabhängige Ermittlungsstellen, aber auch von Polizeigewalt Betroffene gleichermaßen Zugriff auf diese möglichen Beweismittel erlangen.
Policing the Police: Parlamentarische Kontrolle stärken
Abgeordnete müssen ihrer Kontrollfunktion gegenüber der Exekutive gerecht werden können. Zentral hierfür ist die Einführung von Polizeibeauftragten in Bund und Ländern nach dem Vorbild der Datenschutzbeauftragten oder Wehrbeauftragten. Diese müssen außerhalb der Innenministerien angesiedelt sein und von einer Person besetzt werden, die nicht aus dem Polizeidienst kommt. Das Amt der Polizeibeauftragen muss mit genügend Ressourcen ausgestattet werden, um Häufungen von Fehlverhalten zu analysieren, Strukturen zu durchleuchten und hinterfragen zu können. Sie soll dem Parlament regelmäßig Bericht erstatten.
Fehlerkultur etablieren
Vertrauen muss man sich verdienen: Dass die Polizei Fehler macht, ist eine banale Feststellung – und wird dennoch von vielen Akteur*innen kategorisch ausgeschlossen. Vertrauen in die Polizei entsteht aber nicht durch das reflexhafte und kategorische Abblocken jeder Kritik, sondern erst durch systematische Aufarbeitung von Missständen und dem Eingeständnis von Fehlern. Eine Fehlerkultur in der Polizei zu etablieren ist unerlässlich. Die Einrichtung von Polizeibeauftragten ist dafür ein erster Schritt. Die zentralen Veränderungen müssen aber innerhalb der Polizei stattfinden – es bedarf eines tiefgreifenden kulturellen Wandels in der Polizei. Zentral muss sich die Einsatznachbereitung und Reflektion des polizeilichen Handelns wandeln. Nur wenn eigenes Handeln systematisch überprüft wird, können Fehler minimiert werden.
Datenabfragen reformieren
In den letzten Jahren wurden immer mehr rechte Netzwerke in der Polizei aufgedeckt, die letzten Fälle aus Hessen sind hier womöglich nur die Spitze des Eisbergs. Alleine seit 2018 sind mindestens 400 Verfahren nach illegalen Datenabfragen bei den Landespolizeien eingeleitet worden – die Dunkelziffer mag weit höher liegen. Das System der Datenabfrage muss nach strengen Datenschutzbestimmungen reformiert werden: Sofern über polizeiliche Datensysteme Informationen abgerufen werden, muss durch eine persönliche Kennung zweifelsfrei nachvollziehbar sein, wer, wann, warum, welche Daten abgerufen hat. Datenabfragen sollen nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz stets auf ein Minimum beschränkt sein. Unberechtigte Datenabfragen müssen konsequent straf-, disziplinar- und beamtenrechtlich verfolgt werden.
Wir brauchen Zahlen
Ein derart sensibler Bereich wie staatliche Gewalt braucht eine systematische wissenschaftliche Grundlage. Kritische Polizeiforschung wurde bisher teils vernachlässigt, teils bewusst verhindert: Die von Innenminister Horst Seehofer gestoppte Studie zu Rassismus in der Polizei ist dringend notwendig. Im Mittelpunkt müssen die Erforschung menschenfeindlicher Ideologien und damit einhergehende Radikalisierungsprozesse von Polizist*innen stehen. Andererseits müssen mehr belastbare Zahlen über Polizeigewalt erhoben werden, um zielgenaue Maßnahmen treffen zu können.
Eine Versachlichung der Debatte ist dringend notwendig. Davon profitieren auch alle Beamt*innen, die sich für faire Polizeiarbeit einsetzen.Machen wir uns auf den Weg
Mit diesem Papier wollen wir die Debatte voranbringen, um die eklatanten Missstände in der Polizei endlich anzugehen. Uns ist bewusst, dass all diese Maßnahmen – so heftig sie auch von Polizeigewerkschaften und Innenministerien bekämpft werden – doch nur ein erster Schritt sein können auf dem langen Weg zu einer befreiten Gesellschaft, die Gewalt und Repression als Mittel der gesellschaftlichen Problemlösung Stück für Stück überwindet.